Zitat:Ein schlichter Name für ein spektakuläres Kunstwerk: „Pfeiler 18“ lässt Archäologen staunen. Dass sie ihn überhaupt ausgraben konnten, verdanken sie einem mysteriösen Umstand.
Die Menschen vor 12 000 Jahren, wie mögen sie gewesen sein? Bislang hielten Historiker sie für primitiv. Die Jäger und Sammler lebten von der Hand in den Mund. Architektur, Kunst und Kultur waren damals, in der Steinzeit, noch kaum entwickelt. – Das zumindest dachten Fachleute bisher. Neuere Funde ändern dieses Bild.
Zu ihnen zählt eine riesige Tempelanlage mit reich verzierten Pfeilern und Mauern, die Archäologen – unter anderem des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) seit 1995 Stück für Stück freilegen. Die Gebäude auf dem „Nabelberg“ Göbekli Tepe in der Nähe der Stadt Sanliurfa stammen vom Ende der Altsteinzeit und wurden damit von Jägern und Sammlern errichtet. Hier waren keine Keulen-schwingenden Primitivlinge am Werk, sondern Menschen, die ihre Kultur monumental in Szene zu setzen wussten.
Religion als Starthilfe für die Zivilisation?
Die neuesten Entdeckungen der Archäologen um Klaus Schmidt vom DAI bekräftigen dieses veränderte Bild vom Steinzeitmenschen, wie das Wissenschaftsmagazin „bild der wissenschaft“ in seiner November-Ausgabe berichtet. In dem steinzeitlichen Heiligtum auf dem Göbekli Tepe haben sie monumentale Pfeiler ausgegraben, die sie für die ältesten bisher bekannten Götterabbildungen der Welt halten.
„Pfeiler 18“, so lautet der schlichte Name des spektakulärsten Kunstwerks: Fast sechs Meter hoch und zehn Tonnen schwer, mit besonders eindeutigen Gravuren, die ihn von den anderen Funden unterscheiden. Es zeigen sich auf der Oberfläche die Merkmale einer menschlichen Gestalt, mit deutlich ausgearbeiteten Händen, einem Schurz aus Fuchsfell und einem Gürtel mit geheimnisvollen Symbolen. Der Koloss steckt in einer in den Felsboden gemeißelten Steinpfanne, deren Rand mit einer kleinen Entenparade geschmückt ist. Drei weitere Pfeiler haben die Archäologen ebenfalls komplett freigelegt, die allerdings nicht ganz so detailliert ausgeschmückt sind. Doch auch in ihnen erkennen sie Darstellungen menschlicher Wesen. Klaus Schmidt äußert seine Interpretation der Kunstwerke so: „Möglicherweise treten wir hier den in der Menschheitsgeschichte frühesten Götterbildern entgegen.“ Mit dieser Vermutung trifft Schmidt genau ins Schwarze der aktuellen Debatte über die Mechanismen zivilisatorischer Entwicklung: Derzeit glauben die meisten Wissenschaftler, dass religiöses Empfinden die erste Triebkraft für die kognitive und kulturelle Evolution des Menschen war.
Verlassener Geistertempel
Dass die Relikte aus der Steinzeit so gut erhalten geblieben sind, verdanken die Archäologen einem mysteriösen Umstand: Die Tempelanlage wurde nach einer unbekannten Nutzungsdauer quasi „beerdigt“ – die Menschen füllten die großen, runden Räume vollständig mit Erdreich und Geröll. Warum sie das taten, weiß niemand. Auf diese Weise konservierten sie aber die beeindruckenden Kunstwerke, die die Archäologen jetzt so nachhaltig faszinieren.
Heilige Zeichen auf Stein
Die Monolithen, die im Inneren der Rundbauten aufragen sind mit einer Fülle aufwendiger Tierreliefs verziert. Beispielsweise Leoparden, Füchse, Schlangen, Keiler und Enten tummeln sich auf den gewaltigen Steinen. Zwischen diesen Tierbildern befinden sich außerdem abstrakte Zeichen, die sich auch auf Pfeiler 18 wiederfinden: Ein „H“, halbmondförmige Symbole und eine Reihe aus Winkeln und ein Balken. Auch verkleinerte und stilisierte Tierbilder sind dort verewigt. Diese Zeichen sind so auf den Reliefbändern angeordnet, dass sie nach Schmidts Ansicht weit mehr als reiner Schmuck sein müssen. Er sieht darin ein neolithisches Notationssystem, mit dem Nachrichten fixiert und weitergegeben wurden.
„Das ist noch nicht Schrift“, betont der Archäologe. Als „neolithische Hieroglyphen“ bezeichnet er die in variablen Zusammensetzungen wiederkehrenden Symbole dennoch. Da sie in einer Kultstätte gefunden wurden, handelte es sich wahrscheinlich um heilige Zeichen – und genau das ist die wörtliche Übersetzung von „Hieroglyphe“. Der Bonner Ägyptologe Ludwig D. Morenz stützt diese Interpretation: Auch die Schrift im Niltal begann mit einem abstrakt anmutenden Notationssystem wie die Zeichen in den anatolischen Bergen. Vor allem die Mini-Tierdarstellungen waren, so Schmidt und Morenz, nicht bloße Ornamentik und auch nicht Abbild des Gezeigten, sondern Symbol für etwas anderes, etwas nicht direkt oder konkret Darstellbares.
Guckloch in die Vergangenheit
Die aktuellen Entdeckungen werden wahrscheinlich nicht die letzten Überraschungen sein, die der Göbekli Tepe für die Archäologen bereithält. Obwohl schon vier große runde Steinkonstruktionen ausgegraben sind, ist das nur ein Bruchteil dessen, was an steinzeitlichen Schätzen dort noch in der Erde schlummert: Geophysikalische Messungen zeigen, dass es weitere kleeblattförmige Kreisanlagen gibt, von denen jede einzelne größer ist als das gesamte bisher freigelegte Areal. Und dieses umfasst immerhin knapp 4000 Quadratmeter – und damit mehr als die Fläche eines halben Fußballfeldes. Bisher bleibt die Tempelanlage auf dem Göbekli Tepe das einzige Fenster in diese faszinierende Kultur der Steinzeit, denn trotz intensiver Suche konnten Archäologen bisher keinen weiteren vergleichbaren Fundplatz ausfindig machen.
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