Zitat:In Baden-Württemberg wird eine komplette mittelalterliche Klosterstadt gebaut - unter streng historischen Bedingungen: Maschinen und Regenmäntel sind verboten, Kaffee gibt es nicht. Forscher hoffen so auf neue Erkenntnisse über das neunte Jahrhundert.
Was machte ein mittelalterlicher Steinmetz, wenn mitten bei der Arbeit ein heftiger Frühjahrsregen einsetzte? Regenschirme sind auf Baustellen extrem unpraktisch. Polytetrafluorethylen für Goretex-Jacken war noch nicht bekannt, ebenso wenig wie Polyvinylchlorid (PVC) zur Herstellung von Friesennerzen. "Er zog sich eine Jacke aus gewalktem Loden über", erklärt Bert Geurten.
Gewalkte Lodenjacken werden also an Regentagen das Bild auf seiner Baustelle bestimmen. Die liegt bei Meßkirch, im südlichen Oberschwaben, zwischen Donau und Bodensee. Hier wird ab 2013 eine karolingische Klosterstadt entstehen - gebaut mit den Materialien und Techniken des neunten Jahrhunderts. Vom Mörtel bis zur Mauer, vom Regenschutz bis zum Speiseplan soll hier alles genau so sein wie zu den Tagen Karls des Großen. "Wir wollen so authentisch arbeiten wie möglich", sagt Geurten.
Den Plan dazu trägt der rheinländische Unternehmer schon lange in mit sich herum. Gerade einmal 16 Jahre alt war der heute 62-Jährige, als er in seiner Heimatstadt Aachen in einer Ausstellung ein Modell des St. Gallener Klosterplans sah. Der Plan vom Beginn des neunten Jahrhunderts zeigt die ideale Klosteranlage, wie der Abt Haito von Reichenau sie sich vorstellte.
Die Zeichnung widmete er seinem Kollegen Abt Gozbert von St. Gallen, der dem Kloster von 816 bis 837 vorstand. Vom Hühnerstall bis zur Kirche für 2000 Gläubige zeichnete Haito akribisch alles auf, was seiner Meinung nach eine Klosterstadt zum Leben braucht. Gebaut wurden die insgesamt 52 Gebäude nie - bis im Frühjahr 2013 die Ochsenkarren die ersten Steine auf die Baustelle im Wald bei Meßkirch ziehen werden. Um das Jahr 2050, so die bisherigen Schätzungen, könnte die Klosterstadt stehen.
Hoffen auf neue Erkenntnisse über das Leben im Mittelalter
Schon das lässt die Dimensionen des Projekts erahnen - und es ist längst nicht nur eine Touristenattraktion, sondern knallharte wissenschaftliche Arbeit. Zwölf Experten, darunter Historiker, Architekten und Archäologen, sitzen im wissenschaftlichen Rat der Klosterstadt. Ihre Aufgabe ist es, sowohl die Handwerker zu beraten, als auch aus deren Erfahrungen zu lernen.
Derartige Experimente versprechen seltene Einblicke in das Alltagsleben vergangener Jahrhunderte. Wie die Menschen vor langer Zeit ihre Häuser bauten, ihr Essen zubereiteten oder ihre Kleidung anfertigten, ist heute oft nur noch auf eine Art herauszufinden: Man muss es ausprobieren. Dank der experimentellen Archäologie wissen Forscher etwa, dass antike Leinenpanzer so gut schützen wie Kevlar-Westen, wie in der Bronzezeit Bier gebraut wurde oder wie Steinzeitmenschen scharfe Klingen herstellten.
Das neunte Jahrhundert - also jene Zeit, die das Projekt "Karolingische Klosterstadt" nachempfinden soll - ist besonders interessant für solche Experimente. Denn aus der Periode vor 1100 bis 1200 Jahren haben, anders als etwa aus dem Hochmittelalter, nur wenige Schriften die Zeit überdauert. "Unser Ziel ist es nicht, am Ende eine Klosterstadt zu haben", betont Geurten, "sondern sie zu bauen".
Das erste Gebäude wird eine kleine Holzkirche sein. "Natürlich haben sie im Mittelalter nicht gleich als erstes die große Steinkirche gebaut", erklärt der Unternehmer. Die Handwerker wollten bei damaligen Bauprojekten nicht mit dem Beten warten, bis die Steinkirche fertig war. Deshalb zimmerten sie eine einfache Holzkirche als Übergangslösung, bis die Klosterbewohner Jahrzehnte später in den steinernen Prachtbau umziehen konnten.
Mittelalterliche Bedingungen für Handwerker und Besucher
Die Karren mit den Steinen werden in Meßkirch Hinterwälder Ochsen ziehen. Diese Rasse kommt mit 115 bis 125 Zentimetern Widerristhöhe bei einem Gewicht von 380 bis 480 Kilo den kleinen Arbeitstieren aus der Zeit Karls des Großen am nächsten. "Sie stammen von den Keltenrindern ab", sagt Geurten.
Nicht nur die Handwerker müssen sich auf mittelalterliche Bedingungen einlassen, sondern auch die Besucher. Geplant ist, sie vom Parkplatz aus zunächst einen längeren Weg laufen zu lassen, bis sie auf die Baustelle gelangen. "Sie sollen eine Zeitreise machen und die Gegenwart dabei zurücklassen", sagt Geurten. Wenn sie dann der Hunger überkommt, wird es in der Klosterstadt nur das geben, was im neunten Jahrhundert auf der Speisekarte stand. "Die Kartoffel war unbekannt", sagt Geurten. Frittenbuden mit Pommes wird man deshalb vergeblich suchen. "Und auch Kaffee wird man bei uns nicht trinken können." Alles, was die Handwerker und Gäste verzehren, muss zuvor dem Boden rund um die Baustelle abgetrotzt werden.
Dass Besucher sich von einem so strikten Konzept nicht abschrecken lassen, zeigt die Burg Guédelon. Im französischen Burgund errichten Bauleute mit mittelalterlichen Techniken die Burganlage aus dem 13. Jahrhundert - und ziehen jedes Jahr Besucherströme im sechsstelligen Bereich an. "Die Befragungen der Besucher in Guédelon haben gezeigt, dass sie im Schnitt alle drei Jahre wiederkommen", erklärt Geurten. "Sie wollen die Burg wachsen sehen, wollen den Fortschritt mitverfolgen."
So wünscht er es sich auch für seine Klosterstadt, und das nicht nur aus ideellen Gründen: Die Startfinanzierung von rund einer Million Euro aus den Kassen von Stadt, Landkreis und der EU reicht nur für die ersten Jahre. Danach muss sich das Projekt selbst tragen.