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"Lassen wir das Bison doch in Ruhe!" (Gelesen: 2971 mal)
Ares Hjaldar de Borg
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Wulfen
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"Lassen wir das Bison doch in Ruhe!"
23.06.10 um 16:06:25
 
...

Zitat:
Es sind Zeugnisse einer großen Kunst, fünfzehntausend Jahre alt: die Malereien in der Höhle von Altamira in Spanien. Bald darf man wieder in die Höhle hinein, die lange für die Öffentlichkeit geschlossen war. Das wäre eine Katastrophe.


Man muss es sich ständig vorsagen: Wir wissen nicht, wer diese Steinzeitmenschen waren. Wir wissen, wann sie gelebt haben – vor fünfzehntausend Jahren –, wir besitzen Hinweise auf ihre Lebensbedingungen und kennen ihre herausragende Hinterlassenschaft: die Höhlenmalereien von Altamira im nordspanischen Kantabrien. Aber schon bei der Frage, warum diese weltberühmten Tierdarstellungen entstanden, tappen wir im Dunkeln.

Vielleicht waren es religiöse Gründe, auch wenn wir über ihre Götter so wenig wissen wie über ihr Denken. Vielleicht wollten die Menschen des Jungpaläolithikums die Wesen, die sie verspeisten und mit deren Fell sie sich kleideten, in ihrer Wohnung verewigen. So wie sich ihre fernen, geschmacklich verunsicherten Nachfahren in dekorativer Absicht ausgestopfte Hirschköpfe über den Kamin hängen. Vielleicht aber auch – und das wäre die schönste, aufregendste Möglichkeit – malten die Menschen diese Tiere einfach nur, weil es ihnen in den Sinn kam, Tiere zu malen. Aus Spaß an der handwerklichen Herausforderung. L’art pour l’art, das wäre ein unwahrscheinliches, aber überaus reizvolles Motiv.

Vor neun Jahren, kurz vor der Schließung, hatte ich das Privileg, eine halbe Stunde in der Höhle von Altamira zu verbringen. Das war die festgesetzte Zeit. Man ging in geführten Gruppen von fünf Leuten. Normalerweise musste man sich schriftlich anmelden und mit einer Wartezeit von drei bis vier Jahren rechnen. Jährlich achttausend Menschen kamen in den Genuss dieser prähistorischen Kunstwerke; entsprechend exklusiv fühlte man sich. Drinnen war es kühl und feucht, die Luft roch alt, aber nicht nach fünfzehntausend Jahren.

1979 erstmals geschlossen

Ältere Spanier erzählen, wie sie als Kinder „in die Höhle gegangen“ sind. Der Eintritt kostete ein paar Peseten, so viel wie das Dorfkino. Drinnen haben sie gelacht und gerufen, und natürlich haben sie auch die Malereien angefasst, um zu sehen, ob die Farbe abgeht.

Das war in den fünfziger und sechziger Jahren. Durch die Besuchermassen veränderten sich Temperatur und Luftfeuchtigkeit, die Farbe blätterte ab wie alter Putz, 1979 wurde Altamira erstmals geschlossen und drei Jahre später mit strengsten Auflagen wieder geöffnet. Nur weil der Besucherkreis danach auf Forscher und handverlesene Interessenten beschränkt blieb, sind die Tiere, die unsere Vorfahren malten, noch zu sehen. Vor zehn Jahren war ihr Zustand nach offiziellen Angaben „besorgniserregend, aber stabil“.

Egal, was wir tun, weitere fünfzehntausend Jahre werden sie nicht überleben. Das alles weiß man, wenn man durchs Halbdunkel tappt, nichts berührt und dennoch jedes Detail speichern will, das man dort unten sieht. Im Eingangsbereich entdeckt man Spuren eines Einsturzes. Dann beginnen an den Seitenwänden die Fingermalereien, die einen Stier darstellen oder einen Büffelkopf. Wenn man dann die polychromen Meisterwerke im größten Raum der Höhle sieht, etwa zweihundert Meter vom Eingang entfernt, ist man versucht, von Kunst zu sprechen: Pferde, Hirsche, vor allem Bisons drängen sich an der Decke. Nicht immer ist sofort auszumachen, wo ein Tier aufhört und das nächste beginnt. Doch jedes einzelne ist ein Wesen für sich, in Rostrot und bräunlichem Rosa, mit Strichen von Kalkweiß dazwischen; die Konturen sind präzise mit Kohle gezogen.

Spiel mit der Felsoberfläche

Ein Rätsel ist nicht nur, warum die Menschen der Urzeit die Tiere malten, sondern warum so. Die Höhle von Altamira ist stellenweise kaum einen Meter hoch. Die Bewohner müssen auf dem Boden liegend gemalt haben, und doch war ihr Sinn für Raumwirkung bestrickend: Die Erhebungen, Schrunden und Knubbel der Kalksteindecke sind in die Körper eingearbeitet, so dass die Tiere dreidimensional hervortreten, etwa mit Rumpf und Schädel, während Hörner oder Schweif außerhalb des hervorgehobenen Leibes bleiben. Naturalisten waren hier am Werk, die ihre Bisons genau kannten. Warum aber haben sie die Tiere überlebensgroß dargestellt und sich dadurch zusätzliche Mühen eingehandelt? Wir wissen es nicht. Ein Abgrund von Zeit trennt uns von der hier dargestellten Welt.

Jetzt hat der Ministerpräsident von Kantabrien verkündet, das Patronat der Höhle von Altamira habe beschlossen, die Sehenswürdigkeit demnächst wieder zugänglich zu machen. Der oberste Wissenschaftsrat Spaniens hat davor gewarnt; neuere Studien müssen noch abgewartet werden. Natürlich soll äußerst behutsam vorgegangen werden, mit Verhaltensmaßregeln und Begrenzung. Auch das spanische Kulturministerium hat versprochen, darüber zu wachen.

Eine Attraktion für Kantabrien

Doch das Motiv tritt klar hervor: Kantabrien kann es sich nicht leisten, ohne seine Hauptattraktion zu sein. Das ist sonderbar. Gerade um Altamira zu schonen, wurde gleich daneben für 23 Millionen Euro eine Nachbildung gebaut, durch die ganze Schulklassen geschleust werden können und die schon mehr als 2,5 Millionen Besucher gesehen hat. Form, Farbe, Oberflächenstruktur und optische Anmutung des Hauptsaals wurden mit einer Präzision von vierzigtausend Punkten pro Quadratmeter kopiert und mit denselben Licht- und Feuchtigkeitsbedingungen ausgestattet wie das Original. Selbst die Nässe an den Felsnasen aus Kalksteinpulver und Polyesterharz ist simuliert. Kopien sind nie schön, aber manchmal die einzig sinnvolle Lösung.

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Ares Hjaldar de Borg
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Wulfen
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Re: "Lassen wir das Bison doch in Ruhe!"
Antwort #1 - 23.06.10 um 16:08:22
 
Zitat:
(...)

Die Höhle von Altamira wurde erst 1879 entdeckt. Doch in hundertdreißig Jahren haben Neugier und Reiselust der Nachgeborenen sie schon so stark beschädigt, dass sich die Grundsatzfrage stellt.

Ertragen wir es, ein einzigartiges Kulturdenkmal zu versiegeln und in Ruhe zu lassen? Sind wir bereit, es nur um seiner selbst willen zu schonen, auch wenn das Nichtbetreten, Nichtgenießen, Nichtfotografieren bedeutet?


In Kantabrien scheint man das anders zu sehen. Präsident Obama solle eingeladen werden, hieß es. Wenn das keine wegweisende Nachricht ist.


Quelle: FAZ

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Geoffrey
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Anrath
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Re: "Lassen wir das Bison doch in Ruhe!"
Antwort #2 - 23.06.10 um 17:08:13
 
Antwort: Ja
Warum? Weil es unwiederbringlich ist, auch wenn das bedeutet, dass die allermeisten Menschen es im Original nie zu Gesicht bekommen werden. Aber in Kalabrien ist man sicher anderer Meinung.
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