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    Die Normannenstürme

    793 - 1066

    "Das Zeitalter der Wikinger begann, als Skandinavier zum ersten Mal Westeuropa angriffen, und es endete, als diese Angriffe aufhörten".

    So faßt Peter Sawyer die Geschichte der Normannenstürme zwischen 793 und 1066 knapp zusammen. Diese wie eine Binsenweisheit klingende Bilanz kann natürlich kaum umfassen, unter welchen Voraussetzungen im 8. Jahrhundert Menschen in Skandinavien in ihre Schiffe stiegen, um in fast ganz Europa für Entsetzen zu sorgen. Die Angst vor den Skandinaviern als in den Augen der Christen und spanischen Muslime wilden Heiden, die über das Meer kamen, um Beute zu machen, konnte nur am Ende komplexer Entwicklungen stehen, die sowohl aus technischem Fortschritt vor allem im Schiffsbau, als auch aus militärischen und demographischen Elementen geboren wurden. Im Rahmen dieser (ursprünglich als universitäre Arbeit verfaßten und hier in einer vereinfachten Form vorliegenden) Abhandlung soll ein wenig Licht auch auf die ganz praktischen Dinge fallen, die im Laufe großer politischer Betrachtungen weniger Beachtung finden. Gerade bei den Wikingern sind es aber auch die greifbaren, technischen Dinge, ohne die sie nie ihren Platz in der Geschichte hätten einnehmen können, wie wir ihn heute kennen.

    I. HERKUNFT UND BEGRIFFLICHKEIT

    Als Normannen werden in der Zeit vor dem frühen 10. Jahrhundert vor allem jene Menschen aus den skandinavischen Ländern bezeichnet, die mit dem ausgehenden 8. Jahrhundert mit Überfällen von See her in West- und Mitteleuropa für Angst und Schrecken sorgen. Zur Unterscheidung von den in Nordfrankreich und Sizilien später seßhaften Normannen ist in diesem Zusammenhang vielleicht die Verwendung der Bezeichnung Wikinger sinnvoller, wenngleich der Ursprung dieses Wortes nicht ganz geklärt ist. Ob es vom nordischen Wort "vik" (Bucht) herrührt, vom angelsächsischen "vigja" (zerschlagen, Krieger) oder von der südnorwegischen Landschaft Viken, kann nicht zweifelsfrei bewiesen werden.


    Wikingerkopf aus dem Osebergfund (heute im Wikingerschiffmuseum Bygdoy). Wie auf den meisten Abbildungen, wird ein bärtiger Mann dargestellt.

    Die heimgesuchten Völker hatten zumeist ihre eigenen Termini für die unerwünschten Besucher . Bei den Angelsachsen hießen sie meist "Nordmänner", "Dänen" oder schlicht "Heiden". Im deutschen Raum wurde die Bezeichnung "Ascomanni" (Eschenmänner) überliefert, die den Historikern heute noch Rätsel aufgibt. Es mag sich auf die Schiffe bezogen haben, auch wenn man Eschenholz eher als Material für den Mastbau kannte und der Rumpf meist aus Eichenholz war . Welche Bezeichnung die Geschädigten auch immer wählten, und sei sie auch so phantasievoll wie das al-Madjus ("Heidenzauberer") der spanischen Muslime, zumeist unterschieden sie nicht zwischen Dänen, Schweden und Norwegern, sondern faßten die Völker ab Jütland nordwärts unter Sammelbegriffen zusammen. Das später für die Normandie namensgebende "Nordmanni" der Franken ist da nur ein Beispiel.
    Eine Ausnahme machten immerhin die Iren, die zwar auch Sammelbezeichnungen wie Lochlannach (Nordlinge) oder Gaill (Fremde) kannten, aber auch zwischen Norwegern und Dänen zu unterscheiden suchten. Erstere nannten sie Finn-gaill ("weiße Fremde"), die Dänen entsprechend Dubh-gaill ("Schwarze Fremde").

    In jedem Fall waren die unter diesem Terminus zusammengefaßten, sich selbst aber nicht so bezeichnenden, Seefahrer und -krieger aus den Gebieten des heutigen Schwedens, Dänemarks und Norwegens stammende Menschen, die in kleineren Verbänden oder auch größeren Heeren in den Küstengebieten und entlang der großen Ströme Mitteleuropas auf Beutezug gingen.

    II. DIE ÄRA DER WIKINGER

    Der erste größere Überfall, der meist als Beginn der Wikingerzeit gesehen wird, war die Plünderung des nordenglischen Inselklosters Lindisfarne, wo 793 die damals bestehende Benediktinerabtei von See aus angegriffen und teilweise zerstört wurde. Einzelne Übergriffe von Skandinaviern auf dem Boden anderer europäischer Länder waren schon in den früheren Jahrhunderten bekannt. Gregor von Tours (ca. 538/39 - 593/94) überlieferte uns beispielsweise einen dänischen Übergriff auf das Frankenreich im 6. Jahrhundert . Wir wissen aus der Angelsächsischen Chronik auch, daß 789, nur vier Jahre vor dem Überfall auf Lindisfarne, Nordmänner auf drei Schiffen "aus Hörthaland" (die Gegend um den Hardanger-Fjord in Norwegen) kamen und einen unglücklichen Vogt erschlugen, der in ihnen nicht die Seeräuber erkannte, die sie offenbar waren. Mit dem Ende des 8. Jahrhunderts brach aber eine Periode mit einer so intensiven Häufung von Überfällen an, daß dieser Zeitraum im angelsächsischen Sprachraum häufig auch heute noch als "the Viking Age" bezeichnet wird. In den kommenden etwa 300 Jahren terrorisierten die nordischen Seefahrer die Bevölkerung Europas.

    II.1. Gründe für die Überfälle

    Diesem sprunghaften und in zahlreichen Quellen dokumentierten Anwachsen von Raubzügen ging offenbar ein starkes Bevölkerungswachstum in den nördlichen Heimatländern der Seeräuber voran. In Norwegen und vor allem Dänemark wuchs die Einwohnerzahl im Verlauf des 7. - 8. Jahrhunderts deutlich an. Abzulesen ist diese Entwicklung beispielsweise an der Anzahl der Handelsposten im Norden. Schon vor dem viking age waren die Skandinavier bereits als geschickte Händler in Erscheinung getreten, deren fortschrittliche Schiffsbautechnik weiträumige Handelsgebiete eröffnete. Nun stieg die Zahl der Handelsposten bemerkbar an, was auf die steigende Population in den skandinavischen Ländern hindeuten könnte. Führt man sich nun die geographische Lage und die topographischen Gegebenheiten der skandinavischen Landschaft vor Augen, wird deutlich, daß mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln nicht ausreichend Land bewirtschaftet werden konnte, um eine Existenz aller Einwohner auf agrarischer Basis sicherzustellen.


    Die Handels- und Kriegsrouten der Wikinger (nach Terence Wise).

    Kontinentaleuropa bot da schon bessere Perspektiven, vor allem was die Erträge aus der Seeräuberei betraf. Es war den Skandinaviern mit ihren exzellenten Handelsverbindungen in das Kernland Europas nicht verborgen geblieben, daß sich das Warenaufkommen auf den Handelsrouten in jener Zeit deutlich gesteigert hatte. Vor allem die Etablierung gefestigter Herrschaftssysteme, allen voran des Karolingerreiches unter Karl dem Großen, verbesserte die Situation für den Fernhandel. Die Herrscherkaste suchte den Luxus und fand ihn in Form erlesener Waren und Güter aus den Nachbarländern oder dem Mittelmeerraum. Das aufblühende Münzwesen sorgte für große Mengen leicht beweglicher Güter auf den Handelswegen Europas, feste Marktplätze erlebten eine Blütezeit.


    Arabische Münzen aus einem Hortfund aus Gotland (Schweden).

    Diejenigen, die Grund besaßen, brauchten Geld für ihren immer zum Aufwendigeren strebenden Lebenswandel und hielten ihre Bauern an, ihre Abgaben mit Münzen statt Vieh zu begleichen. Bargeld bot den Händlern und ihren Waren mehr Sicherheit, es war leichter zu transportieren, zu tauschen und besaß keine der natürlichen Fehlbarkeiten von Naturalien. Silber verfaulte nicht, noch verstarb es auf dem Weg zum Viehmarkt. So wurde es auch für Fernhändler zunehmend interessant, eine längere Reise für ihre Handelsunternehmungen in Kauf zu nehmen. Schiffe fuhren von der Küste aus weit ins Landesinnere, um ihre Waren abzuladen.

    Unter diesen Händlern waren auch viele Skandinavier. Von Nord- und Ostsee kommend, leiteten sie ihre Schiffe auf den aus moderner Sicht noch vergleichsweise tückischen Wasserstraßen der damaligen Zeit zu den Handelsplätzen an den Flüssen Nord- und Mitteleuropas. Durch eigene Erfahrung lernten sie so Wege, Plätze und Möglichkeiten kennen, die ihnen und ihren Landsleuten später zum Vorteil gereichen sollten. Sie hatten die Mittel, die Erfahrung und das seemännische Können zur effektiven Seeräuberei, und sie sollten sie nutzen. Auf den Wegen, die ihre Vorfahren einst als Händler beschritten hatten, würden sie ab dem Ende des 9. Jahrhunderts wieder gehen - als Räuber.




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