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    Gestickte Geschichte

    Der Teppich von Bayeux


    Schlachtszene auf dem Teppich von Bayeux: Das Werk ist eines der bedeutendsten Bildwerke aus dem Mittelalter (eine Komplettansicht finden Sie hier).

    Der Teppich von Bayeux ist ein außergewöhnliches Beispiel bildlicher Geschichtsdarstellung. Entstanden wenige Jahre nach der normannischen Eroberung Englands (1066), erzählt er die Geschichte dieser Invasion auf über 70 Metern Länge und 50 cm Höhe. Die Bilddarstellungen, die in ihrer Lesart und mit ihrer fortlaufenden Geschichte an moderne Comic Strips erinnern, umfassen unter anderem nicht weniger als 623 Personen, 762 Tiere, 37 Gebäude und 41 Schiffe. Wollfäden in zehn verschiedenen Farben zeichnen die Darstellungen auf das Leinentuch. Entstanden ist das Kunstwerk wahrscheinlich in England, wofür die Verwendung angelsächsischer Stilelemente, Sticktechniken und alphabetischer Anlehnungen sprechen. Seinen Ausstellungsort bekam der Teppich dann aber in der Kathedrale von Bayeux, wo man sein Vorhandensein seit 1476 bezeugen kann.

    Heute, nachdem er über 800 Jahre lang die Wirren der europäischen Geschichte (inklusive französischer Revolution, Napoleonik und zweier Weltkriege) überstanden hat, ruht der Teppich im Museé de Reine Mathilde nahe der Kathedrale in Bayeux. Um ein Haar wäre er nicht erhalten geblieben. Während der Revolutionswirren konnte ein engagierter Jurist einige Plünderer nur unter Mühen davon abhalten, ihn als Wagenplane zu verwenden. Nur wenige Jahre später kamen die Erbauer eines Karnevalswagens auf die erschreckend gedankenlose Idee, den Teppich zu zerstückeln und als Dekoration des Festwagens zu mißbrauchen. 1803 wurde er auf Geheiß Napoleons in ein Pariser Museum überführt, wo er zur propagandistischen Vorbereitung einer möglichen Invasion Englands ausgestellt wurde.


    Für Rekonstruktionen bietet der Teppich unersetzliches Quellenmaterial.

    Der Teppich von Bayeux ist voller Sachdetails, wie sie die Archäologie für diese Zeit bisher nur begrenzt bieten kann. Man findet Darstellungen von Kleidung, Sachgegenständen, Rüstungen, Waffen, Frisuren, Schiffen, handwerklichen Tätigkeiten, Gebäuden, Personen und Tieren. Fabelwesen und kleine Geschichten finden sich auf den Zierbalken ober- und unterhalb der Hauptszenen wieder.

    Damit ist das Werk eine Fundgrube für Historiker, Kunstwissenschaftler, Re-enactors und experimentelle Archäologen. So wurden schon Kleidung, Gegenstände und sogar Schiffe nach den Vorlagen auf dem Teppich nachgebaut.

    So ist die Stickerei zweifelsohne ein Kunstwerk von hohem wissenschaftlichen Rang und eines der wichtigsten Zeugnisse seiner Epoche. Doch wie ist das Werk zu lesen? Beschränkt sich die Darstellung auf die großen Abbildungen im Hauptteil des Teppiches oder gibt es weitere, verborgene Deutungsebenen? Wie werden die dargestellten Charaktere bewertet und in welchem Maße kommt die Erzählung dem Auftraggeber des Werkes entgegen?




    I. MATERIAL UND STILISTISCHE EINORDNUNG

    Die Basis für den Teppich ist ein aus insgesamt neun Bahnen bestehender Leinenkörper, die Figuren sind mit Wollfäden in zehn Farben aufgestickt. Somit handelt es sich nicht um einen "klassischen" Teppich, der geknüpft oder gewebt worden ist, sondern ein besticktes Bildwerk. Die Technik, in der die Bestickungen vorgenommen wurden, erinnert an einen zeitgenössischen Fund aus Skandinavien, auch hier wurde mit Spann- und Überfangstichen gearbeitet. Zur Flächenausarbeitung wurde der nach dem Werk benannte Bayeux-Stich (point de Bayeux) besonders häufig verwendet. Diese Sticktechnik verwendet nah aneinandergelegte, lange senkrechte Stiche, die durch kurze waagerechte Querstiche auf dem Trägerkörper fixiert werden und ein flächiges Bild ergeben. Die Garne wurden sorgfältig gefärbt, was ein nicht unerheblicher Kostenfaktor gewesen sein dürfte. Die Qualität der Färbung ist auch heute noch zu erkennen, da die Fäden der Vorderseite im Vergleich zu denen auf der Rückseite vergleichsweise wenig ausgeblichen sind. Diese geringe Materialermüdung durch Sonnenlicht ist auch ein Indiz dafür, daß das Werk nur zu bestimmten Zeiten in der Kirche ausgestellt und ansonsten gut verwahrt wurde.


    Auf nahe Entfernung ist die Sticktechnik gut zu erkennen.

    Die Stiche stammen nachweislich zwar von mehreren Händen , die Gesamtplanung, das Konzept und die Leitung der Arbeiten wird allerdings einem einzelnen Künstler zugeschrieben . Der Name des Künstlers ist nicht bekannt, allerdings geht die Forschung zumeist von einem männlichen Gestalter aus , der mit der Sachlage vertraut war, vielleicht die Schlacht selbst erlebt hatte oder sich in militärischen Belangen zumindest gut auskannte. Die Figurengestaltung weist Parallelen zur englischen und normannischen Buchmalerei auf, welche wiederum Bezüge zur älteren angelsächsischen in sich trägt. Kunsthistoriker weisen auf die Ähnlichkeiten zu den Werken der Schule von Canterbury hin, was wiederum ein Indiz für eine englische Herkunft des Teppiches sein könnte. Verschiedene Autoren vertreten die Theorie, der Künstler sei ein Mönch oder sonstwie Angehöriger des Klosters St. Augustine in Canterbury gewesen und begründen diese These mit der kulturellen Bedeutung Canterburys für das Herrschaftsgebiet Bischof Odos. Die aktuelle Forschung geht nicht ganz so weit, bescheinigt dem Künstler aufgrund stilistischer Parallelen aber "große Vertrautheit mit Winchester und besonders mit den illuminierten Handschriften der Klosterbibliotheken von Canterbury" (Lise BERTELSEN).




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