1,8 Millionen Jahre alter Schädel stellt Menschheitsgeschichte auf den Kopf
Mehrere Arten von Urmenschen bevölkerten früher die Erde. Einige starben aus, andere entwickelten sich zu neuen Arten weiter. Diese bislang geltende These stellt nun eine Gruppe von Anthropologen auf den Kopf und führt interessante Beweise dafür an.Als erster Urmensch bevölkerte vor ungefähr zwei Millionen Jahren der Homo rudolfensis die Savannen und Buschlandschaften Afrikas. Benannt nach dem ersten Fundort am Rudolf-See (heute: Turkana-See) in Kenia, gilt er als die urtümlichste Art der Gattung homo, die sich aus dem älteren Australopithecus entwickelte. Dieser „südliche Affe“ (so die deutsche Übersetzung) zählte noch zu den Menschenaffen.
Dem Homo rudolfensis folgte der Homo habilis (der begabte oder auch geschickte Mensch), der schon recht ausgefeilte Steinwerkzeuge nutzte. Vor 1,9 Millionen Jahren trat dann noch der Homo erectus auf den Plan, also der aufgerichtete Mensch. Er kannte das Feuer und nutzte die Jagd als Element seiner Nahrungsversorgung. Aus ihm, so die Hypothese der Anthropologen, gingen der moderne „wissende“ Mensch (Homo sapiens) sowie als Seitenzweig der Neandertaler hervor.
Die Verwandtschaftsbeziehungen dieser Arten untereinander sowie zu weiteren Arten der Hominiden sind indes unklar und unter den Forschern umstritten. Stets aber galt als gesichert, dass es sich um eigenständige Arten von Urmenschen handelt. Nun stellt eine neue Studie einer internationalen Anthropologengruppe um Dawit Lortkipanidze vom georgischen Nationalmuseum in Tiflis diese Sichtweise in Frage.
Analyse 1,81 Millionen Jahre alter Knochen
Die Analyse gründet sich auf Fossilien, die Ausgräber an der bekannten Fundstätte Dmanissi in Südgeorgien entdeckten. Dort fördern Forscher schon lange versteinerte Relikte von Menschen und Tieren zutage. Darunter fanden sich auch die Schädel von vier Urmenschen, die zusammen mit weiteren Menschen- und Tierknochen sowie Steinwerkzeugen im Boden lagen. Das Alter der Fundschicht datierten Experten auf 1,81 Millionen Jahre. Im Jahr 2005 tauchte ein weiterer Schädel auf, der ungewöhnlich gut erhalten war. Den zugehörigen Kiefer hatten die Ausgräber bereits fünf Jahre früher geborgen. Zusammen ergaben sie das bislang mächtigste an dieser Stelle gefundene Schädelfossil. Deshalb vermuten die Forscher, dass „Schädel 5“ einem Mann gehörte. Bald darauf begannen Lortkipanidze und seine Kollegen, den Fund zu analysieren. Das Ergebnis legen sie jetzt im Wissenschaftsjournal „Science“ dar.
Wie sich zeigte, vereint Schädel 5 ein geringes Hirnvolumen von gerade 546 Kubikzentimetern (moderner Mensch: ca. 1360 Kubikzentimeter) mit einem relativ langen und großen Gesicht sowie großen Zähnen. Mit diesen Merkmalen unterscheidet er sich von den Schädeln anderer Homo-Arten. Offenbar hatte dieser Frühmensch ein kleines Denkorgan, während seine Körpergröße und die Proportionen der Gliedmaßen denen des modernen Menschen glichen. Zwar ist die Ausgrabung am Fundort noch längst nicht vollständig, doch schon jetzt ermöglichen die entdeckten Fossilien den Forschern, die Eigenschaften dieser verschiedenen Urmenschen, die zur selben Zeit und im gleichen geographischen Gebiet gelebt haben, zu vergleichen, aber auch Unterschiede festzustellen.
Normalerweise nutzen die Anthropologen Variationen bei Fossilien von Urmenschen, um unterschiedliche Arten der Gattung Homo zu definieren. Diesmal aber kamen die Studienautoren zu einem anderen Resultat. Die fünf Individuen von Dmanissi ließen sich nicht verschiedenen Arten zuordnen. Denn sie unterscheiden sich offenbar nicht mehr als fünf Personen aus einer Bevölkerungsgruppe moderner Menschen oder fünf Schimpansen. Mit anderen Worten: Die Menschen gehörten der gleichen Art an, sahen aber jeweils anders aus.
Daraus ziehen Lortkipanidze und seine Kollegen einen überraschenden Schluss: Es gibt nicht viele verschiedene Homo-Arten, wie bislang geglaubt, sondern nur eine. Dabei handelt es sich vermutlich um Homo erectus. „Die Sammlung aus Dmanissi, die nunmehr fünf Schädel umfasst, weist direkt darauf hin, dass es in und zwischen frühen Menschengruppen eine große Bandbreite an morphologischen Variationen gibt“, schreiben die Studienautoren. „Dies beinhaltet die Existenz einer einzigen sich entwickelnden Linie früher Menschen, die sich über die Kontinente verteilten.“
Dmanissi trage zu den zunehmenden Hinweisen bei, dass die Variationen der Körpermerkmale innerhalb einer Art als Artenvielfalt fehlinterpretiert werden, sagt Lortkipanidze. Dies gelte insbesondere, wenn nur einzelne Fossilien von verschiedenen Fundorten miteinander verglichen würden. „Wären die Hirnschale und der Kiefer von Schädel 5 als separate Fossilien an verschiedenen Orten in Afrika gefunden worden, würden sie unterschiedlichen Arten zugeordnet“, bekräftigt Studien-Mitautor Christoph Zollikofer vom Institut und Museum für Anthropologie in Zürich. Nun biete sich die Gelegenheit, diesen Fund mit Fossilien aus Afrika zu vergleichen, die bis zu 2,4 Millionen Jahre alt sind, ebenso mit jüngeren Knochen aus Afrika und Asien, deren Alter zwischen 1,8 und 1,2 Millionen Jahren liegt.
Grundlegende Änderung in der Klassifikation früher Menschen„Die Dmanissi-Schädel unterscheiden sich sehr voneinander, deshalb läge der Gedanke nahe, sie als verschiedenen Arten zu publizieren“, so Zollikofer weiter. „Wir wissen aber, dass diese Individuen zur selben Zeit und am selben Ort lebten, deshalb können sie zumindest im Prinzip eine einzige Population einer einzigen Art repräsentieren“. Überdies sei bei afrikanischen Fossilien ein ähnliches Muster an Variationen zu sehen.