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Beitrag begonnen von Ares Hjaldar de Borg am 04.08.14 um 06:34:14

Titel: Urknall-Theorie im Mittelalter
Beitrag von Ares Hjaldar de Borg am 04.08.14 um 06:34:14

Zitat:
Und es ward Licht

Robert Grosseteste dachte bereits im Mittelalter über den zeitlichen Anfang der physikalischen Welt nach. Aus Annahmen der aristotelischen Naturphilosophie entwickelte er die erste Urknall-Theorie.

Gab es die Idee des Urknalls bereits lange bevor der belgische Astrophysiker George Lemaître sie 1931 aus Albert Einsteins Relativitätstheorie? Solch eine Frage ist riskant. Mit hinreichend großzügiger Interpretation sprachlicher Bilder und Begriffe lässt sich nämlich so mancher alte Text über den Anfang der Welt zum Vorläufer der modernen physikalischen Kosmologie erklären. Präziser ist die Frage, wer denn als Erster einen natürlichen Prozess vorgeschlagen hat, durch den es vor einer endlichen Zeitspanne zu der heute sichtbaren Welt kam.

Es spricht einiges dafür, dass es Robert Grosseteste war. Er lebte von etwa 1170 bis 1253 und war im Hauptberuf Theologe, lehrte in Oxford und wurde 1235 Bischof von Lincoln, der größten Diözese Englands, die er vorbildlich verwaltete. Zeitgenossen aber, nicht zuletzt seinem Schüler Roger Bacon, war er vor allem als Intellektueller ein Begriff. Damals entdeckte der lateinische Westen gerade das Werk des Aristoteles, jenes antiken Philosophen, der am ausführlichsten über Naturdinge nachgedacht hatte - und Grosseteste konnte ihn als einer von wenigen westlichen Gelehrten damals im griechischen Original lesen.

Damit war der Kosmos, den Grosseteste erklären wollte, nicht das Weltall unserer Physikbücher, das erst viel später mittels neuer Technologien wie des Fernrohrs zugänglich wurde, sondern der Kosmos des Aristoteles. Dort stand die Erde im Zentrum und war von einer Anzahl Sphären umgeben, die unveränderlich und in dem Sinne vollkommen waren, dass es dort nur perfekte Kreisbewegungen der Gestirne gab. Demgegenüber war die Erde unvollkommen, was auch daran zu sehen war, dass Körper hienieden, statt zu kreisen, zum Erdmittelpunkt streben.

In seiner um 1225 entstandenen Schrift „De Luce“ (Über das Licht) überlegte sich Grosseteste nun, welche Physik es gewesen sein mochte, die einen solchen Kosmos hervorbrachte - ganz natürlich, also nicht in permanenter Formung durch den Schöpfer, den er sich damit eher als eine Art Ingenieur vorgestellt haben muss statt als den lehmknetenden Designer anderer theologischer Traditionen. Dabei postuliert er ein urtümliches Licht (lateinisch lux), das sich am Beginn des Kosmos von einem Punkt aus radial ausdehnte, dabei aber sich selbst vermehrte und den dreidimensionalen Raum bildete. Zugleich riss lux Materie mit sich und verdünnte sie immer weiter. Nun war Aristoteles der Ansicht gewesen, leerer Raum sei unmöglich. Grosseteste folgerte daraus die Existenz einer minimalen Materiedichte. War diese erreicht, spekulierte er, wandelte sich das Licht-Materie-Gemisch zu einem perfekten Zustand, der sich nicht mehr veränderte. So kam es zu der äußersten Sphäre.

Weiter nahm Grosseteste an, dass perfekte Körper eine zweite Art von Licht, lumen genannt, abstrahlen. Da außerhalb der äußersten perfekten und daher nicht mehr weiter expandierenden Sphäre nichts ist, kann lumen nur nach innen abgestrahlt werden. Dabei komprimiert es die dortige Materie in bestimmten Abständen vom Zentrum. In anderen kommt es zur Verdünnung und daher zur Ausbildung weiterer perfekter Himmelssphären, die ihrerseits lumen abstrahlen, das allerdings von dazwischenliegender Materie abgeschwächt wird, so dass es eine kleinste Sphäre gibt - die des Mondes -, innerhalb derer das lumen nicht mehr ausreicht, um weitere perfekte Zonen entstehen zu lassen. So kam es zu der unvollkommenen Erde im Zentrum.

Heutige Kosmologen könnten versucht sein, hier eine Vorwegnahme moderner Konzepte hineinzulesen - etwa die (anfängliche) Expansion des Alls aus einem Punkt heraus oder lux als ein Quantenfeld mit negativem Druck, wie es die vermutete exponentielle kosmische Expansion im frühen Universum antreiben könnte. Doch sind diese Parallelen vergleichsweise oberflächlich. Viel frappierender ist, wie hier ein mittelalterlicher Mensch von vorne bis hinten physikalisch dachte. Auch wenn die Naturgesetze, die er annahm, nicht die sind, von denen wir heute wissen, dass sie den Kosmos regieren.

Auf ihre Weise funktioniert diese Physik sogar. Das konnte ein Team von Physikern und Mediävisten um Richard Bower, Tom McLeish und Giles Gasper von der britischen Durham University in einer Studie nachweisen, die gerade in den Proceedings of the Royal Society A erschien. Die Wissenschaftler übersetzten den lateinischen Text von „De Luce“ in moderne Formelsprache, stellten Gleichungen für Materie und lumen auf und fütterten damit einen Computer. Tatsächlich zeigte sich dort die Bildung „perfekter“ Sphären (siehe Abbildung). Ein aristotelisches Universum mit neun perfekten Sphären und einer unvollkommenen sublunaren Erde ergab sich aber nur für eine sehr spezielle Wahl der Modellparameter. Auch damit ist Robert Grossetestes spekulativer Kosmos wieder nahe an dem Universum der modernen Astrophysik, denn dieses hätte eine völlig andere Gestalt (und würde in den meisten Fällen keine Sterne, Planeten oder Kosmologen zulassen), wenn die Naturkonstanten nur leicht andere Werte hätten als die tatsächlichen.

Der entscheidende Unterschied zwischen unserem modernen physikalischen Universum und dem Grossetestes ist freilich dessen statische Natur. Nach Ausbildung der Sphären tut sich dort nichts mehr. Dieses Erbe seiner aristotelischen Voraussetzungen konnte Grosseteste ebenso wenig abschütteln wie die räumliche Endlichkeit der Welt innerhalb der äußersten Himmelssphäre. Doch widersprach er, der entschiedene Aristoteliker, dem Meister insofern, als er die ewige Dauer der Welt, ihre zeitliche Unendlichkeit, bestritt. Es sollte 700 Jahre dauern, bis ein Naturforscher derlei wieder denken konnte.


Quelle

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