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Beitrag begonnen von Tankret de Donjon-Blanc am 25.02.04 um 11:53:22

Titel: Extrapolation: wo ist sie erlaubt bzw notwendig
Beitrag von Tankret de Donjon-Blanc am 25.02.04 um 11:53:22
Das Problem kennen viele:
Da hat man einen Beleg aus dem 10.-11. Jahrhundert für Kettenhemden nit zickzackabschluss (bei Angelsachsen zu dieser Zeit beleibt) und einen aus dem ausgehenden 13. beginnenden 14.Jahrundert. Aber was ist mit dem 12. und 13. Jahrundert?? Gab es diese Verzierungen dort auch? Habe ich nur den Beleg nicht gefunden oder gibt es gar keinen.            
Wie würdet ihr hier vorgehen?
Meiner Meinung nach ist es warscheinlich das es diese Verzierungen auch im 12. jahr. gegeben hat. Sie wird nur nicht alzu häufig sein, da sonst hierüber vermutlich mehr Belege existieren würden. Aber ist eine solche Extrapolation über 100 bis 150 Jahre in der HMA-Darstellung zulässig ? Oder ist sie gar Notwendig?   
   
 

Titel: Re: Extrapolation: wo ist sie erlaubt bzw notwendi
Beitrag von Volkmar_der_Kurtze am 25.02.04 um 13:20:41
Hm, meiner Meinung nach kann man die Zickzackecken nehmen. Rüstungen und Verzierungen sind ja immer in Entwicklung gewesen. Vielleicht waren zu mal nicht so spitz ausgeführt aber da gewesen sind sie bestimmt.
Ich weiss ja nicht, ob man den Vergleich im Bereich Bekleidung mit anführen kann um diese Vermutung zu unterstützen.
Zickzack an der Kette is OK, obwohl ich sie nicht am Khemd nehmen würde, da es ja extrem Lärm machen würde (klapper, klingel)

Meine Meinung zu diesem Thema.


Titel: Re: Extrapolation: wo ist sie erlaubt bzw notwendi
Beitrag von Tankret de Donjon-Blanc am 25.02.04 um 16:58:51
Ok. Weiteres Beispiel:
im 11 jhr bis zum Beginn des 12. jhr findet man Belege für separate kettenhauben mit runden Halsansatz. Zu Beginn des 13. jhr. findet man wiederum seperate Kettenhauben diesesmal hauptsächlich mit rechteckigen Halsansatz weniger mit rundem Halsansatz

Wie sieht es in der Mitte-Ende des 12. Jhr aus? Hier sind Belege für Kettenhauben mir nicht bekannt. In der Regel sind hier die Kettenhauben im Kettenhemd integriert. Diese Variante scheint bis zum 14. Jhr auch üblich zu sein.

Titel: Re: Extrapolation: wo ist sie erlaubt bzw notwendi
Beitrag von Volkmar_der_Kurtze am 25.02.04 um 17:45:05
Ich wieder.

Also gesehen habe ich so ein Kettenhemd noch nie real gesehen. Alles was ich si auf Burgen sah war nur ein KH wobei da noch nicht mal Fäustlinge dran waren. Gut aus der Literatur und aus Bildern kann man ja sehen das es so was gegeben hat, aber aus rein praktischen Gründen würde ich wirklich zum Zweiteiler gehen. Hält man ausserdem den Rand der auf die Schultern kommt rechteckig und trägt dann noch einen Waffenrock der den Kragen verdeckt, so ist die Illusion doch fast perfekt.

Titel: Re: Extrapolation: wo ist sie erlaubt bzw notwendi
Beitrag von Ares Hjaldar de Borg am 01.03.04 um 11:06:04
Um die Diskussion wieder zum Kern des Themas zurückzuführen, würde ich gerne noch einmal den Terminus der Extrapolation erklären, falls jemand damit nichts anfangen kann. Extrapolation ist eine Methode zur Schätzung von unbekannten Werten innerhalb eines Gefüges, wobei man diese Werte anhand von bekannten Größen innerhalb eines Intervalls ermittelt.

Hört sich kompliziert an, ist aber recht einfach. Beispiel: Wir haben ein Kloster, in dem Haushaltsbücher geführt werden mit den monatlichen Einnahmen aus der Diözese, allerdings fehlen drei Monate in einem Buch. Für diese Monate wird jetzt aufgrund der bekannten Werte anderer Monate ein Einkommen geschätzt.

In diesem Sinne, so schätze ich mal, hat Tankret versucht, eine Methode zur Annahme von Ausrüstungsgegenständen zu beschreiben. Beispiel Schuppenpanzer: Es gibt Funde und Beschreibungen aus dem frühen Mittelalter, es gibt Abbildungen aus dem 13. Jahrhundert (wo gesichert Christen als Träger abgebildet sind), nur keine Belege aus dem 12. Jahrhundert. Mithilfe von Analogienbildung könnte man jetzt das Vorkommen von Schuppenpanzern im 12. Jahrhundert annehmen, aber nicht belegen.

So können hypothetisch "missing links" überbrückt werden, ohne daß man eine faktische Befundlage hätte. Allerdings muß man damit sehr vorsichtig sein, denn eine Hypothese ist noch kein Beweis.

Titel: Re: Extrapolation: wo ist sie erlaubt bzw notwendi
Beitrag von William de Granville am 01.03.04 um 11:44:32
Ich würde sagen das die Extrapolation immer im zusammenhang mit Haltbarkeit des Gegenstandes und dessen Wert gesehen muss.

Ein Beispiel:

Eine Stoffgugel mit Bordüren und oder noch weiteren Aufwendigen Verzierungen sollte auch bei schonender Behandlung 20 JAhre nicht überschreiten ( von modischen geschichtspunkt sowieso nicht ).

Eine Waffe oder ein Rüstteil wird sicherlich länger halten, bei angemessener Pflege ( wovon wir aufgrund des enormen Wertes ausgehen können ). Bei Rüstungen kommt aufgrund der enormen Kosten auch der modische Ansatz ein wenig ins Hintertreffen ( möglicherweise vererbt oder verkauft auber immernoch im Einsatz ).

Ich geb gern zu alles nur Vermutungen, aber so würde ich die Sache sehen.

Titel: Re: Extrapolation: wo ist sie erlaubt bzw notwendi
Beitrag von Tankret de Donjon-Blanc am 01.03.04 um 13:45:35
Das klingt sinnvoll:
Extrapolation auf teure Gegenstände, die selten schnell ersetzt werden können und darüberhinaus sehr haltbar sind, haben lassen sich über längere Zeiträume hin annehmen, als billige Alltagsgegenstände. Rüstungen wären so ein Gegenstand, insbesondere vor 1200, da hier Metalle noch sehr teuer sind.
 

Titel: Re: Extrapolation: wo ist sie erlaubt bzw notwendi
Beitrag von Bernhard Roussel d Alencon am 01.03.04 um 13:57:54
Ist ja alles hoch interessant, aber beim Ursprung dieses Threats ging es darum, ob man aus praktischen Grunden Material verwenden darf, dass zwar "mittelalterlich" aissieht, aber nicht Belegbar ist. Zum Beispiel Griffwicklung beim Bogen, Rückenköcher, Lederarmschutz, nichtwendegenähte Schuhe, usw.

Titel: Re: Extrapolation: wo ist sie erlaubt bzw notwendi
Beitrag von Tankret de Donjon-Blanc am 02.03.04 um 16:21:33
An Bernhard: Sagen wir besser auch.
Generell:
Meiner Meinung nach sind Gegenstände deren Nachweise zeitlich später liegen nicht auf die davor liegende Zeit hin extrapolierbar. Es verbietet sich also diese in der Darstellung zu verwenden. Nicht wendegenähte Schuhe für historische Darstellung gutzuheisen wäre also nicht drin.     
Extrapolationen sind meiner Meinung nach nur möglich wenn ich einen früheren Beleg auf eine spätere Epoche anwenden möchte. Diese Wahrscheinlichkeitsabschätzung wird natürlich exakter, wenn es auch noch Belege nach der angepeilten Epoche finde. Weiterhin steigt die Wahrscheinlichkeit einer historischen Existenz eines Gegenstandes zu einem extrapolierten Zeitpunkt wenn die beiden Belege zeitlich nah beieinander liegen. Eigendlich ist somit jedliche Beurteilung der Lebenumstände und der gesamten Sachkultur eine Summe von Extrapolationen nach diesem Verfahren. Die Frage ist hier nur wo die Grenze für die Größe von Zeitintervallen für unsere Darstellung bei verschiednenen gegenständen liegen sollte. Claas hat schon ein paar Zahlen für verschiedene genannt. Weitere wären Interessant.
So gibt beispeilsweise ein Autor für Rüstungen des dritten Kreuzzuges an, dass diese auch noch aus dem Jahr 1066 stammten, da Metalle um 1200 und früher ungleich teurer waren als um 1350. (siehe Rüstungsartikel auf diesen Seiten)  
       
 

Titel: Re: Extrapolation: wo ist sie erlaubt bzw notwendi
Beitrag von Bernhard Roussel d Alencon am 02.03.04 um 20:47:58
Wenn wir das so auslegen müssen wir aber viele Ausrüstungsgegenstände aussortieren! ;D

Titel: Re: Extrapolation: wo ist sie erlaubt bzw notwendi
Beitrag von Sascha am 02.03.04 um 21:38:39
Einzelfall betrachtet werden sollte, es sei denn, man möchte sich einen riesigen Fragenkatalog zurechtlegen.

Aber ein paar Fragen dazu sollte man beantworten wie:
- Ist der zu rekonstruierende Gegenstand historisch ein Unikat oder vielleicht schon in einer Serie vorhanden gewesen, Beispiel Schmuck, eine Kaiserkrone oder etwas aus einer Bronzegussserie?
- Wie vergänglich ist er von Material her. Leder oder Metall?
- Wie viele Gegenstände sind davon gefunden worden und wie viele müssten es sein?
Stichwort Bogen, ein alltäglicher Gegenstand, aber nur ein paar sind uns erhalten geblieben.
- Gab es innerhalb der zu rekonstruierbaren Zeit besondere technische Neuerungen die Einfluss gehabt haben könnten. Zum Beispiel, Kettenhemden das Drahtziehen?
- Sind Vergleichsgegenstände zulässig oder stehen kulturelle, regionale, technische oder soziale Schranken im Weg? Zum
.Beispiel kannte man wohl Reis im südlichen Europa, aber weiter im Norden nicht, weil er dort nicht wächst…
….

Und noch viel mehr

Titel: Re: Extrapolation: wo ist sie erlaubt bzw notwendi
Beitrag von Bernhard Roussel d Alencon am 03.03.04 um 08:03:55
@Sascha: Finde ich korrekt, besonders was den z.B. Schmuck angeht, ich schätze mal das nicht jeder in der Vergangenheit mit der gleichen Brosche rumgelaufen ist. Die hatten bestimmt auch Phantasie ;) Und solange man sich an gewisse Vorgaben hält (z.B. damal übliche Muster) sehe ich da kein Problem!

Titel: Re: Extrapolation: wo ist sie erlaubt bzw notwendi
Beitrag von Sascha am 03.03.04 um 09:05:44
Gerade der Broschenschmuck ist eine der am besten überlieferten Gegenstände der Zeit!
Klar gibt es auch hier jede Menge „missing links“ und immer wieder Neufunde.
Aber Borschen sind zumeist aus Metall und sind dementsprechend oft konserviert.
Gerade nach Fibeln werden z.B. Gräber zeitlich eingeordnet.
Hier gibt es so eine große Auswahl von Funden, dass eine Extrapolation nur unsinnig wäre und das jeder seinen persönlichen Darstellungsgeschmack ausleben kann!

Ein kleines Beispiel : http://vpn-rp-service.dyndns.org/fibeln/fibel-galerie/start.htm
Und noch eines http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3110168588/qid=1078303528/sr=2-1/ref=sr_aps_prod_1_1/302-3263938-7522464

Es gibt z.B. für mein Interessensgebiet Fibeln die in Norddeutschland und England gefunden wurden, wo man nachgewiesen hat, das diese aus ein und derselben Gussform stammen!

Ein Beispiel für eine Extrapolation in Sachen Schmuck kann ich aber bringen.
In Paderborn hat man einen Riemenbeschlag (sogar in der Nähe einen zweiten aus derselben Gussform) gefunden der zu einer Schwertgarnitur gehört.
Das Problem hierbei ist das Riemenverteiler, Schnalle und Co fehlen…
Da muß ich mich eventuell an überregionalen Funden von kompletten Garnituren orientieren, von der es eine Handvoll gibt.
Der Clou bei der Sache ist, ich kann mich an den üblichen Wikikleeblattfibeln orientieren: http://www.ratatoskr.de/072408.JPG

Diese sind nämlich aus Mitteleuropa „ausgewandert“ und wurden vom karolingischen Riemenverteiler für die Schwertgarnitur zur typischen Wikingerfibel!
Hier kann man also von einer jüngeren Form auf eine ältere schließen, die dazu noch eine ganz andere Funktion besaß…

Also man sieht, es sind immer Einzelfälle und man kann nie generelle Schlüsse ziehen…

Gruß

Sascha



Titel: Re: Extrapolation: wo ist sie erlaubt bzw notwendi
Beitrag von Tankret de Donjon-Blanc am 15.03.04 um 11:42:57
Was den Riemenverteiler angeht, erwähnst du die kompletten Ganituren von denen es einige Fundstücke gibt. Diese werden wohl zeitlich früher als die Fibeln gewesen sein, sonst hätte sich wohl kein Archäologe dazu hinreisen lassen, das dieser Riemenverteiler eine Vorlage für die nordischen Fibeln ist. Zumindest ein Paläontologe wurde sich nicht zu so was hinreisen lassen. Somit hat er doch eine Extrapolation von einer älteren Epoche auf eine jüngere gemacht und nicht umgekehrt.

Um noch mal zu erläutern was ich gerne hätte: Archäologie meines Wissens ist eine Geisteswissenschaft die u.a. naturwissenschaftliche Methoden zu Beantwortung von historischen Fragen verwendet.
In den Naturwissenschaften gibt es die Methoden des induktiven und deduktiven Vorgehens bei der Bewertung von Beobachtungen um zu allgemeinen Gesetzmäßigkeiten zu kommen bzw. diese zu überprüfen.

In den Geisteswissenschaften setzt man, meiner Kenntnis nach, die nie ganz eindeutige Methode der Hermeneutik (= Interpretationslehre) ein, für die es in der Methodik der Geschichte bestimmte Regel gibt, damit man ein historisches Ereignis nicht durch die gegenwärtigen Vorstellungen und Bräuche verfälscht interpretiert.

Da die größten Schwierigkeiten in der Paläontologe darin liegen, zwei Funde miteinander in Beziehung zu setzen und zu Extrapolieren was zeitlich dazwischen war, bin ich davon ausgegangen das es in der Archäologie ähnliche Probleme gibt. Die Frage vor mir ist somit: Gibt es allgemeine oder spezielle Regeln in der entsprechenden Wissenschaftstheorie, welche einem erleichtert derartige Extrapolationen vorzunehmen? Und dann ggf. weiter: Kennt diese jemand, wo sind sie nachzulesen?      

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